Kommentare zur Goldenen Regel


In der letzten Zeit war der Satz "Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest" Anlaß für gute Gespräche mit vielen, in ihre Widersprüche verstrickte Leute. Leute, die auch noch die Widersprüche bei den Menschen in ihrer Umgebung vergrößern. Das Verhalten der Menschen ist heute immer unbeständiger und man weiß nicht mehr wo man bei dem anderen dran ist, gleichzeitig wissen die anderen aber auch nicht, was sie von einem selbst zu erwarten haben.

Bei verschiedenen Gelegenheiten haben wir über “Moral" gesprochen. Dieses Wort riecht heute nach Verlogenheit, wie so viele andere Worte, die verfälscht und mit den schlechtesten Absichten benutzt wurden. Was ist "Moral" heute anderes, als veralteter Kram, an den niemand mehr glaubt? Unsere Moral hat nichts mit dieser etablierten Farce zu tun. Wir berufen uns auf einen großen Verhaltensgrundsatz, der “Die Goldene Regel” genannt wurde. Sicher stellt die Goldene Regel für Menschen, die das humanistische Denken kennen, keine Schwierigkeit dar. Sie stimmt mit unserem B Menschenbild vollkommen überein. Trotzdem könnten einige Bemerkungen hilfreich sein, damit dieses Verhalten weiter verbreitet wird. Ein Verhalten in dem der Versuch Schmerz und Leiden in unserer Gesellschaft auszulöschen, bekräftigt und gerechtfertigt wird. Wenn wir von Antidiskriminierung sprechen, vom Respektieren der Vielfalt und von der Wahl der Lebensbedingungen, die wir für uns und andere anstreben, dann ist dies ein Echo dieser Moral!

Im Humanistischen Vokabular wird über die Goldene Regel gesagt: "Unter verschiedenen Völkern stark verbreitetes moralisches Prinzip, das auf eine humanistische Haltung hinweist. Wir geben im Folgenden einige Beispiele: Rabbiner Hillel: "Was du nicht für dich wünschst, tue nicht deinem Nächsten an". Platon: "Dass es mir gegeben sei, den Anderen das zu tun, von dem ich möchte, dass sie es mir tun". Konfuzius: "Tue Anderen das nicht an, was du nicht möchtest, dass sie dir antun". Dschainistische Lebensregel: "Der Mensch muss sich anstrengen, alle Geschöpfe so zu behandeln, wie er gerne behandelt werden möchte". Im Christentum: "All die Dinge, von denen ihr gerne hättet, dass es die Menschen mit euch machen, so machet es auch mit ihnen". Unter den Sikhs: "Behandle die anderen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest". Die Existenz der Goldenen Regel wurde von Herodot in verschiedenen Völkern des Altertums nachgewiesen.”

Im Humanismus wird gesagt: “Behandele die anderen, wie du selbst behandelt werden möchtest.” In der Humanistischen Bewegung verstehen viele Menschen diesen Verhaltensgrundsatz und praktizieren und/oder versuchen ihn zu praktizieren. Sie gehen dabei von einer anderen Sensibilität aus, sie schätzen den anderen und dies unterscheidet sich von dem, was uns in diesen Zeiten der Zerstörung der menschlichen Beziehungen aufgedrängt wird.

Das umfassende Verstehen dieses Grundsatzes geht von dem Verständnis der Struktur des menschlichen Lebens in seiner Gesamtheit aus. Dieses Verständnis unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Verständnis. In der Bewegung steht man Menschen skeptisch gegenüber, die sagen sie würden dieses Verständnis teilen, die aber häufig ein, dem Humanismus entgegengesetztes Bild vom Menschen haben. Wenn man normalerweise seinen Nachbarn nicht auf der Grundlage dieses Grundsatzes behandelt, was soll dann aus den großen Worten der Veränderung der Gesellschaft und der Welt werden? Worauf gründet sich  der Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen?

Lasst uns mal die Schwierigkeiten ansehen.…

Behandle die anderen, wie du selbst behandelt werden möchtest.“ Bei diesem Verhalten gibt es zwei Teile: Was du von den anderen erwartest und was du bereit bist zu geben.

A. Wie man von anderen behandelt werden möchte

Allgemein wünscht man sich einen gewaltfreien Umgang und man möchte um Hilfe fragen können, damit das eigene Leben besser wird. Das gilt sogar für sehr gewalttätige und ausbeutende Leute. Sie verlangen, dass die anderen dabei mitarbeiten eine ungerechte Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten. Der Umgang, der hier erwartet wird, ist unabhängig von dem, was man bereit ist den anderen zu geben.

B. Wie man bereit ist die anderen zu behandeln

Die anderen behandelt man üblicherweise in dem man sie benutzt, so ei man es mit Dingen, Pflanzen oder Tieren tur.  Wir reden nicht von Extremfällen, von Grausamkeiten, denn letztendlich zerstört man die Dinge nicht, die man nutzen möchte. Man neigt meistens dazu, sie solange vorsichtig zu behandeln, solange ihre Existenz in der Gegenwart oder Zukunft nützlich sein könnte. Nichtsdestotrotz, gibt es da einige „andere“, die einen ein wenig aus der Ruhe bringen: die sogenannten „geliebten Menschen“, deren Freud und Leid uns sehr bewegt. In ihnen erkennt man etwas von einem selbst,  und man neigt dazu, sie so zu behandeln, wie man behandelt werden möchte.  Es gibt also einen riesigen Unterschied zwischen den „geliebten Menschen“  und jenen anderen, in denen man sich nicht wiedererkennt.

C. Die Ausnahmen

Was die „geliebten Menschen“ angeht, neigt man dazu,  ihnen Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen.  Gleiches geschieht  mit fremden Personen, in denen man etwas von sich wiedererkennt oder deren Situation uns an die eigene Situation erinnert, oder man geht von einer zukünftigen Situation aus, in der diese Person eine Hilfe für einen selbst sein könnte. In all diesen Fällen handelt es sich um punktuelle Situationen, die man nicht auf alle „geliebte Menschen“ und nicht auf alle fremden Menschen übertragen kann.

D. Einfache Worte sind keine Grundlage

Man möchte Hilfe haben, aber warum sollte man sie anderen leisten? Worte wie „Solidarität“ oder „Gerechtigkeit“ reichen nicht. Sie werden mit einem falschen Hintergrund und ohne Überzeugung ausgesprochen. Das sind „taktische“ Worte, sie werden oft benutzt, um Hilfe von den anderen zu bekommen, ohne ihnen welche zu geben. Das kann auch noch weiter führen, wie z.B. zu  anderen taktischen Wörtern wie „Liebe“, „Güte“, etc. Warum sollte man jemanden lieben, der nicht zu den „geliebten Menschen“ gehört? Die Aussage „Ich liebe, wen ich liebe“ ist widersprüchlich, und es ist überflüssig zu sagen „Ich liebe, wen ich liebe“. Auf der anderen Seite ändern sich die Gefühle, die augenscheinlich diese Worte repräsentieren ständig, und ich kann festellen, dass ich ein und dieselben “geliebten Menschen ” manchmal mehr und manchmal weniger liebe. Letztendlich gibt es viele verschiedene und komplexe Schichten dieser Liebe. Das wird klar, wenn ich sage: „ Ich liebe X, aber ich kann ihn nicht ausstehen, wenn er nicht das tut, was ich will.“

E. Die „Goldene Regel“ von anderen Positionen aus angewendet.

Wenn man sagt:“ Liebe deinen Nächsten wie dich selbst durch die Liebe Gottes“, dann tauchen zumindest zwei Probleme auf: 

1.- Wir müssen voraussetzen, dass man Gott lieben kann, und annehmen,  dass diese “Liebe” menschlich ist, dann ist das Wort unpassend. Oder aber wir lieben Gott, aber mit einer Liebe, die nicht menschlich ist; in diesem Fall ist das Wort auch unpassend. Und
2.- Man liebt seinen Nächsten nicht, sondern nur indirekt durch die Liebe zu Gott. Hier hat man ein doppeltes Problem:  Wir müssen ein Wort, das´die Beziehung zu Gott nicht wirklich darstellt, auf  menschliche Gefühle übertragen.

Von anderen Standtpunkten aus, sagt man Dinge wie: „Wir kämpfen für die Klassensolidarität“; „Wir kämpfen aus Solidarität für den Menschen“; „Wir kämpfen gegen die Ungerechtigkeit, um den Menschen zu befreien“. Hier geht es ohne Grundlagen weiter: warum sollte man solidarisch kämpfen oder dafür andere zu befreien? Wenn Solidarität eine Notwendigkeit ist, dann ist sie nichts, was ich wählen könnte. Dann ist es unwichtig, was ich mache oder nicht, da es bereits nicht mehr meine Wahl  ist. Wenn ich sie aber auf der anderen Seite wählen kann,  warum sollte ich diese Wahl dann treffen?

Andere sagen noch aussergewöhnlichere Dinge wie: „In der Liebe zu meinem Nächsten verwirkliche ich mich selbst“; oder „Die Nächstenliebe sublimiert den Todesinstinkt“. Was soll man dazu sagen? Die Aussage „sich verwirklichen“ sagt nichts klar aus, solange das Ziel nicht dargelegt wird und die Worte „Instinkt“ und „sublimieren“  sind Methaphern aus der Psychologie einer mechanischen Weltanschauung, die heute von allen Seiten aus betrachtet, unzureichend ist?

Es fehlen auch nicht die ganz brutalen, die predigen: “Man darf nicht gegen die etablierte Gesetzgebung verstossen, die dafür sorgt, dass wir uns alle gegenseitig schützen.“ In diesem Fall darf man von dieser „Gerechtigkeit“ aus keine moralische Haltung fordern, die darüber hinausgeht.

Schließlich reden einige von einer natürlichen zoologischen Moral sprechen, ja selbst solche, die - indem sie den Menschen als „rationales Tier” definieren - vorgeben, die Moral ließe sich von der Vernunft dieses Tiers ableiten.

In all diesen genannten Fällen, passt die „Goldene Regel“ nicht sehr gut. Wir können ihnen nicht zustimmen, auch wenn sie behaupten, wir würden über das gleiche  sprechen. Es ist ganz klar, dass wir nicht vom selben sprechen.

Was müssen die Menschen empfunden haben die, in den verschiedenen Völkern und geschichtlichen Momenten, die „Goldene Regel“ zu ihrem höchsten moralischen Prinzip erklärt haben? Diese einfache Formel, von der eine ganze Moral abgeleitet werden kann, entspringt der einfachen und ehrlichen menschlichen Tiefe. Durch diese Fomel endecken wir uns selbst in den anderen.

Die „Goldene Regel“ zwingt kein Verhalten auf, sondern zeigt ein Ideal und ein Modell auf, dem man folgen und  bei dem man gleichzeitig an Verständnis für das eigene Leben gewinnen kann. Die  „Goldene Regel“ kann kein neues Werkzeug der heuchlerischen Moral werden, um damit das Verhalten der anderen zu bewerten. Wenn eine “moralische” Regel  dazu dient,  zu kontrollieren anstatt zu helfen, zu unterdrücken anstatt zu befreien, dann muss sie gebrochen werden. 

Jenseits jeder moralischen Regel, jenseits der Werte von „gut“ und „böse“, erhebt sich der Mensch und sein Schicksal, immer unvollendet und weiter wachsend.

Silo, Mendoza, 17/12/95.


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