Die gültige Handlung


Rede vor einer Studiengruppe in Las Palmas de Gran Canaria, Spanien 29.09.1978

… Worin besteht die gültige Handlung?
Man hat auf diese Frage auf verschiedene Arten geantwortet bzw. zu antworten versucht, wobei man fast immer die Gutwilligkeit oder Böswilligkeit der Handlung in Betracht zog.

Man hat versucht, auf die Richtigkeit der Handlung zu antworten, das heißt, man hat Antworten gegeben, die das betreffen, was von alters her als das Ethische oder das Moralische bekannt ist. Jahre lang haben wir versucht, herauszufinden, was das Moralische ist, was das Unmoralische ist, was das Gute und das Böse ist. Aber in erster Linie hat es uns interessiert zu wissen, was das Richtige, das Gültige bei einer Handlung ist. Uns wurde auf unterschiedliche Weise geantwortet: Es gab religiöse Antworten, juristische Antworten, ideologische Antworten. Mit all diesen Antworten wurde uns gesagt, dass die Personen die Sachen auf eine bestimmte Weise machen und es vermeiden sollten, die Sachen auf eine andere Weise zu machen. Es ist für uns sehr wichtig gewesen, eine klare Antwort auf diese Frage zu erhalten. Es war deshalb von großer Wichtigkeit, da das menschliche Tun, je nachdem, ob es die eine oder die andere Richtung einschlägt, auch eine unterschiedliche Lebensform entwickelt. Alles im menschlichen Leben passt sich dieser Richtung an. Wenn ich eine bestimmte zukünftige Richtung habe, so wird sich auch meine Gegenwart an sie anpassen. Das heißt nun, dass diese Fragen über die Gültigkeit oder Nichtgültigkeit, über das Gute oder das Böse nicht nur die Zukunft des Menschen betreffen, sondern auch seine Gegenwart. Sie betreffen nicht nur das Individuum, sondern sie betreffen auch die menschlichen Gemeinschaften, sie betreffen auch die Völker.

Verschiedene religiöse Haltungen hatten ihre Lösung zu der Frage. Also gab es für die Gläubigen von bestimmten Religionen die Pflicht, gewisse Gesetze zu befolgen, gewisse von Gott inspirierte Gebote. Diese war gültig für die Gläubigen dieser Religionen. Überdies gaben unterschiedliche Religionen unterschiedliche Gebote. Einige wiesen ihre Gläubigen an, dass man bestimmte Handlungen nicht durchführen sollte, um eine gewisse Wendung der Ereignisse zu vermeiden; andere Religionen geboten dasselbe, um eine Hölle zu vermeiden. Und manchmal stimmten diese Religionen, die im Prinzip universell waren, auch in ihren Geboten und Vorschriften nicht überein. Aber das Beunruhigendste an all dem bestand darin, dass in zahlreichen Gebieten der Erde sehr viele der dortigen Bewohner – selbst wenn sie es mit sehr viel gutem Glauben wollten – diese Gebote und diese Vorschriften nicht erfüllen konnten, weil sie keine innere Empfindung von ihnen hatten. Das heißt also, dass die Nichtgläubigen – die ja für die Religionen ebenfalls Kinder Gottes sind – diese Vorschriften nicht erfüllen konnten – so als ob sie aus dieser Hand Gottes entlassen worden wären. Wenn eine Religion universell ist, so muss sie dies nicht deswegen sein, weil sie geographisch die Welt umfasst, sondern sie muss es in erster Linie deswegen sein, weil sie das Herz der Menschen umfasst, unabhängig von den Umständen und Breitengraden. So boten uns also die Religionen mit ihrer ethischen Antwort gewisse Schwierigkeiten.

Wir fragten dann andere, die Einfluß auf das menschliche Verhalten haben, um Rat, nämlich die Rechtssysteme. Diese sind Gestalter und Former des Verhaltens. Sie legen auf irgendeine Weise das fest, was man im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verhalten tun oder lassen soll. Es gibt Gesetzbücher aller Art, um die Beziehungen zu regeln. Es gibt sogar Strafgesetzbücher, die für bestimmte Vergehen, das heißt für als asozial oder antisozial erachtete Verhaltensweisen, eine Bestrafung vorsehen. Die Rechtssysteme haben auch versucht, Antworten auf das menschliche Verhalten zu geben, was das gute oder böse Verhalten ausmacht. Und ebenso wie die Religionen ihre Antworten gegeben haben – was gut ist für ihre Gläubigen –, haben die Rechtssysteme ihre Antworten gegeben, und dies ist gut für einen gegebenen geschichtlichen Moment, für eine gegebene gesellschaftliche Organisationsform. Aber dem Individuum, das ein bestimmtes Verhalten erfüllen muss, sagen sie trotzdem nichts. Zweifellos bemerken die vernünftigen Leute, dass eine Regelung des gesellschaftlichen Verhaltens gut ist, um das totale Chaos zu vermeiden. Aber dabei handelt es sich um eine Technik der gesellschaftlichen Organisation und um keine Rechtfertigung der Moral. Und gewiss haben die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften, je nach ihrer Entwicklung und ihren Auffassungen, juristisch geregelte Verhaltensnormen, die manchmal einander entgegengesetzt sind. Die Rechtssysteme haben keine universelle Gültigkeit; sie gelten für eine bestimmte Zeit, für eine Art von Struktur, aber sie gelten nicht für alle Menschen, noch gelten sie für alle Zeiten oder alle Breitengrade. Und das Wichtigste von allem ist: Sie sagen dem Individuum nichts über das Gute und das Böse.

Wir wandten uns auch an die Ideologien; die Ideologien sind den langen Ausführungen viel freundlicher gesonnen. Und natürlich sind sie in ihren Erklärungen viel ansehnlicher als die platten Gesetzesysteme oder vielleicht auch als die Sache mit den Geboten oder Gesetzen, die von oben heruntergebracht werden. Einige der Lehren erklärten, dass der Mensch eine Art Raubtier sei, ein Wesen also, das sich auf Kosten alles anderen entwickelt und das sich über alles hinweg freie Bahn schaffen muss, ja sogar über andere Menschen hinweg. Das, was hinter dieser Moral steht, ist eine Art Machtstreben. Auf irgendeine Weise ist diese Moral, die romantisch erscheinen mag, jedoch einfach auf Erfolg ausgerichtet und sie sagt dem Individuum hinsichtlich den Dingen, die ihm bei dieser Machtbestrebung fehlschlagen, nichts.

Es gibt eine andere Art Ideologie, die uns sagt: Da alles in der Natur in Evolution begriffen ist und der Mensch selbst ein Produkt dieser Evolution ist, und da der Mensch die Spiegelung der Bedingungen ist, die sich zu einem bestimmten Moment ergeben, wird sein Verhalten die Gesellschaft widerspiegeln, in der er lebt. Folglich wird also eine Klasse eine bestimmte Art von Moral haben und eine andere wird eine andere Art von Moral haben. Auf diese Weise wird die Moral durch die objektiven Bedingungen, durch die gesellschaftlichen Beziehungen und durch die Produktionsweise bestimmt. Demzufolge braucht man sich nicht viele Gedanken zu machen, da man das macht, was zu machen man mechanisch getrieben ist, obwohl aus Werbegründen von der Moral einer Klasse oder von der Moral der anderen Klasse die Rede ist. Wenn wir uns auf die mechanische Entwicklung beschränken, so mache ich das, was ich mache, weil ich in diesem Sinn dazu angetrieben werde. Wo befindet sich dann der gute Mensch und wo der böse?... Es gibt nur einen mechanischen Zusammenstoß von sich bewegenden Teilchen.

Andere eigentümliche Ideologien sagten uns Sachen wie diese: Die Moral ist eine Art gesellschaftlicher Druck, der dazu dient, die Macht der Triebe einzudämmen. Diese Eindämmung ist eine Art Über-Ich, und dieser im Kessel des Bewusstseins erzeugte Druck ermöglicht, dass jene grundlegenden Triebe nach und nach sublimiert werden und eine gewisse Richtung einschlagen ...

Und unser armer Freund, der die einen und die anderen mit ihren Ideologien vorbeigehen sieht, setzt sich plötzlich auf den Gehsteig und sagt: »Was soll ich tun? Denn hier übt eine gesellschaftliche Gemeinschaft Druck auf mich aus, ich habe Triebe, und es scheint, dass ich diese sublimieren kann, sofern ich ein Künstler bin. Wenn nicht, dann muss ich mich auf das Sofa eines Psychoanalytikers hinlegen, sonst werde ich mit einer Neurose enden.« Das heißt, dass die Moral in Wirklichkeit ein Mittel ist, um diesen Druck unter Kontrolle zu halten. Ein Druck, der manchmal den Kessel zum Bersten bringt.

Andere – ebenfalls psychologische – Ideologien erklärten das Gute und das Böse gemäß der Anpassung, d.h. anhand einer anpassenden Verhaltensmoral, die es erlaubt, sich in eine Gemeinschaft einzufügen; und in dem Maße, in dem man sich in diese Gemeinschaft nicht einfügt, sich von dieser Gemeinschaft absondert, hat man Probleme. Das beste ist also, brav zu sein und sich gut in die Gemeinschaft einzufügen! Die Moral sagt uns abhängig von der Anpassung, die das Individuum erreichen muss, abhängig von der Einfügung in seine Umgebung, was das Gute und das Böse ist. Und das ist in Ordnung, es ist eine weitere Ideologie ...

Aber zu Zeiten großer kultureller Erschöpfung, wie dies bereits wiederholt in anderen Zivilisationen geschehen ist, tauchen kurze, unmittelbare Antworten auf die Frage auf, was zu tun und was zu lassen sei. Ich beziehe mich hier auf die so genannten »moralischen Schulen der Dekadenz«. In verschiedenen, bereits im Untergang begriffenen Kulturen tauchen Moralisten auf, die sehr schnell versuchen, ihre Verhaltensweisen so gut wie möglich anzupassen, um ihrem Leben eine Richtung zu geben. Da sind aber einige, die ungefähr folgendes sagen: »Das Leben hat keinen Sinn, und da es keinen Sinn hat, kann ich tun, was mir gefällt ... sofern ich dazu in der Lage bin.« Andere sagen: »Da das Leben nicht viel Sinn hat, muss ich diejenige Sachen tun, die mich befriedigen, die bewirken, dass ich mich gut fühle – auf Kosten von allem anderen.« Wieder andere meinen: »Da ich mich ja schon in einer üblen Situation befinde und da das Leben selbst Leiden ist, muss ich handeln, indem ich eine gewisse Form wahre. Ich muss handeln wie ein Stoiker.« Deshalb nennen sich diese Schulen des Verfalls stoische Schulen.

Hinter diesen Schulen – seien sie auch aus der Not geborene Antworten – gibt es ebenfalls eine Ideologie. Es scheint die grundlegende Ideologie zu sein, das alles den Sinn verloren hat, und diesem Sinnverlust wird eine dringende Antwort entgegengehalten. Heutzutage wird z.B. versucht, die Handlung anhand einer Theorie des Absurden zu rechtfertigen, in der die »Verpflichtung« eingeschmuggelt wird. »Ich habe also eine Verpflichtung etwas oder jemandem gegenüber, und demzufolge muss ich sie erfüllen.« Es handelt sich um eine Art Erfüllungszwang wie diejenige, die im Kreditwesen üblich ist. Es ist schwer zu verstehen, wie jemand eine Verpflichtung eingehen kann, wenn die Welt, in der er lebt, absurd ist und im Nichts endet. Andererseits erhält derjenige, der diese Haltung vertritt, dadurch keine Überzeugungskraft.

So haben also die Religionen, die Rechtssysteme, die ideologischen Systeme und die moralischen Schulen der Dekadenz daran gearbeitet, eine Antwort auf dieses ernste Problem des Verhaltens zu geben, um eine Moral, um eine Ethik aufzustellen. Denn sie alle haben die Wichtigkeit bemerkt, die die Rechtfertigung oder Nichtrechtfertigung einer Handlung hat.

Worin besteht die Grundlage der gültigen Handlung? Die Grundlage der gültigen Handlung wird nicht durch die Ideologien gegeben, nicht durch die religiösen Gebote, nicht durch die Glaubensüberzeugungen, nicht durch die gesellschaftliche Regelung. Auch wenn all diese von großer Bedeutung sind, wird die Grundlage der gültigen Handlung durch nichts davon gegeben, sondern sie wird vielmehr durch die innere Empfindung der Handlung gegeben. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der Bewertung, die von außen zu stammen scheint, und dieser Bewertung, die von der Handlung auf der Grundlage der Empfindung gemacht wird, die der Mensch von dem hat, was er tut.

Und welches ist die Empfindung der gültigen Handlung? Die Empfindung der gültigen Handlung ist diejenige, die als einheitlich erlebt wird, sie ist diejenige, die gleichzeitig das Gefühl inneren Wachstums vermittelt, und sie ist schließlich diejenige, die man wiederholen möchte, denn sie hat den Reiz des Fortdauerns.

Wir werden diese Aspekte im einzelnen betrachten: einerseits die Empfindung innerer Einheit und andererseits das Fortdauern.

Angesichts einer schwierigen Situation kann ich auf die eine oder auf die andere Weise antworten. Wenn ich z.B. gequält werde, kann ich mit Gewalt antworten; d.h. angesichts dieser Irritation und Spannung, die der äußere Reiz in mir hervorruft, kann ich mich entspannen, kann ich mit Gewalt reagieren und dabei eine Empfindung von Erleichterung erfahren – ich entspanne mich. Folglich ist die erste Bedingung für die gültige Handlung scheinbar erfüllt worden: Angesichts eines störenden Reizes räume ich ihn aus dem Weg, und indem ich dies tue, entspanne ich mich, und beim Entspannen habe ich eine Empfindung von Einklang mit mir selbst.

Die gültige Handlung lässt sich nicht einfach durch diese momentane Entspannung rechtfertigen, denn sie dauert nicht fort, sondern sie erzeugt das Gegenteil: Im Moment A erzeuge ich die Entspannung, indem ich auf die erwähnte Weise reagiere; und im Moment B bin ich nicht im geringsten mit dem einverstanden, was ich vorher tat. Das ruft in mir einen Widerspruch hervor; diese Entspannung ist also keine Spiegelung des Einklangs mit mir selbst, da der nachfolgende Moment dem vorausgehenden widerspricht. Es ist darüber hinaus erforderlich, dass die Entspannung die Bedingung des Fortdauerns erfüllt, ohne Lücken und Widersprüche zu zeigen. Auf diese Weise könnten wir zahlreiche Beispiele anführen, wo die Sache mit der gültigen Handlung zwar für einen Moment, aber nicht für den darauf folgenden zutrifft. Und die Person kann nicht richtig versuchen, diese Art von Haltung beizubehalten, da sie nicht innere Einheit, sondern Widersprüchlichkeit empfindet.

Aber es gibt noch einen Punkt, nämlich das Gefühl einer Art inneren Wachstums. Es gibt zahlreiche Handlungen, die wir im Alltag ausführen, durch die wir Spannungen entladen und uns demzufolge entspannen. Das sind keine Handlungen, die etwas mit der Moral zu tun haben; wir führen sie durch und entspannen uns, und das bereitet uns einen gewissen Genuss, und dabei bleibt es. Und wenn erneut eine Spannung auftauchte, würden wir sie wieder mit dieser Art Kondensator-Effekt entladen, mit diesem Effekt, bei dem eine Ladung zunimmt und, wenn sie eine gewisse Grenze erreicht, sich entlädt; und damit, mit diesem Kondensator-Effekt, mit diesem ständigen Laden und Entladen, haben wir den Eindruck, dass wir in einem ewig fortdauernden Kreislauf von Wiederholungen von Handlungen stecken, bei denen sich im Moment der Entladung der Spannung eine angenehme Empfindung einstellt. Aber sie hinterlassen in uns die eigenartige Empfindung, dass, wenn das Leben nur das wäre – nämlich ein Kreislauf von Wiederholungen, von Freuden und Leiden –, dann würde es sicher nicht über das Absurde hinausgehen. Heute rufe ich angesichts dieser Spannung diese Entladung hervor und morgen auf die gleiche Weise ...; der Kreislauf der Handlungen geht immer so weiter, ebenso wie Tag und Nacht aufeinander folgen, unabhängig von jeglicher menschlichen Absicht, unabhängig von jeglicher menschlichen Wahl.

Es gibt jedoch Handlungen, die wir vielleicht sehr selten in unserem Leben vollbracht haben. Es sind Handlungen, die uns im jeweiligen Augenblick eine große innere Einheit verleihen; es sind Handlungen, die uns überdies die Empfindung vermitteln, dass sich etwas in uns verbessert hat, als wir sie ausführten. Es sind überdies Handlungen, die uns ein Versprechen liefern, und zwar in dem Sinne, dass etwas in uns wachsen würde, dass sich dann etwas in uns verbessern würde, wenn wir sie wiederholen könnten. Es sind Handlungen, die uns innere Einheit und ein Gefühl von innerem Wachstum verleihen, und sie dauern in der Zeit fort. Das sind die Empfindungen, die der gültigen Handlung entsprechen.

Wir haben niemals gesagt, dass dies besser oder schlechter sei oder dass es zwingend getan werden müsse. Wir haben vielmehr die Vorschläge gemacht und das System von Empfindungen angegeben, die diesen Vorschlägen entsprechen. Wir haben von den Handlungen gesprochen, die Einheit oder Widerspruch erzeugen. Und schließlich haben wir von der Vervollkommnung der gültigen Handlung durch die Wiederholung solcher Handlungen gesprochen. Wie um ein System von Empfindungen gültiger Handlungen zu schließen, haben wir gesagt: »Wenn du deine Handlungen innerer Einheit wiederholst, kann dich nichts mehr aufhalten.« Letzteres spricht nicht nur vom Empfinden der inneren Einheit, vom Gefühl des Wachstums und vom Fortdauern, sondern es spricht auch von der Vervollkommnung der gültigen Handlung. Denn es ist klar, dass uns nicht alle Versuche gelingen. Oftmals versuchen wir, interessante Sachen zu tun, die nicht so gut gelingen. Wir bemerken, dass diese Sachen verbessert werden können. Auch die gültige Handlung lässt sich vervollkommnen. Die Wiederholung jener Handlungen, die Einheit, Wachstum sowie Fortdauern erzeugen, stellen die Vervollkommnung der gültigen Handlung selbst dar. Das ist möglich.

Wir haben die Empfindungen der gültigen Handlung mit sehr allgemeinen Grundsätzen angegeben. Es gibt einen Hauptgrundsatz, der als die Goldene Regel bekannt ist. Dieser Grundsatz lautet: »Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.« Dieser Grundsatz ist nichts Neues, er ist Jahrtausende alt. Er hat den Lauf der Zeit in verschiedenen Regionen und in verschiedenen Kulturen überdauert. Es ist ein universell gültiger Grundsatz. Er ist auf unterschiedliche Weise formuliert worden. Man hat ihn beispielsweise unter dem negativen Gesichtspunkt betrachtet, indem man etwa sagte: »Tu den anderen nicht an, was du nicht willst, dass sie dir antun.« Dies ist eine andere Einstellung zu der gleichen Idee. Oder man hat auch gesagt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Wieder eine andere Einstellung. Natürlich ist das nicht genau das gleiche, wie wenn man sagt: »Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.« Und das ist gut so. Von alters her ist von diesem Grundsatz gesprochen worden. Er ist der größte der moralischen Grundsätze; er ist der größte der Grundsätze der gültigen Handlung. Aber wie möchte ich behandelt werden? Denn es wird als selbstverständlich betrachtet, dass es gut sei, die anderen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Nun – wie möchte ich behandelt werden? Ich werde darauf antworten müssen, indem ich sage: Wenn sie mich auf die eine Art behandeln, fügen sie mir Böses zu, und wenn sie mich auf die andere Art behandeln, fügen sie mir Gutes zu. Ich werde also darauf antworten müssen, indem ich auf das Gute und das Böse Bezug nehme. Und so werde ich den ewigen Kreislauf wiederholen und die gültige Handlung nochmals definieren müssen, nach der einen oder anderen Theorie, nach der einen oder anderen Religion. Für mich wird eine Sache gut sein und für eine andere Person nicht. Und es wird auch denjenigen geben, der diesen Grundsatz anwendet und die anderen sehr schlecht behandelt, weil es ihm eben gefällt, selbst schlecht behandelt zu werden.

Dieser Grundsatz, der von der Behandlung des anderen auf der Grundlage dessen spricht, was für einen selbst gut ist, ist sehr gut. Es wird jedoch besser sein, zu wissen, was für einen gut ist. Da die Sachen so stehen, interessiert es uns nun, zur Grundlage der gültigen Handlung zu gelangen. Diese Grundlage der gültigen Handlung befindet sich in der Empfindung, die man von ihr hat.

Wenn ich sage: »Ich soll die anderen so behandeln, wie ich selbst behandelt werden möchte«, frage ich mich sofort: »Weshalb?« Es wird wohl irgendeinen Vorgang in einem selbst geben, irgendeine Form bei der Tätigkeit des Geistes, die einem Probleme bereitet, wenn man die anderen schlecht behandelt. Und wie kann diese Tätigkeit beschaffen sein? Wenn ich jemanden sehe, der sich in einem sehr schlechten Zustand befindet, oder wenn ich plötzlich jemanden sehe, der eine Schnittverletzung oder Verwundung erleidet ... dann schwingt in mir etwas mit. Wie kann in mir etwas mitschwingen, das dem anderen widerfährt? Das klingt fast nach Zauberei! Es kommt vor, dass jemand einen Unfall erleidet und ich es beinahe physisch nachempfinde, so als wäre es mir passiert. Ihr habt euch mit derartigen Phänomene befasst und wisst gut, dass jeder Wahrnehmung ein Bild entspricht, und ihr versteht, dass einige Bilder gewisse Körperregionen verspannen können, während andere Bilder sie entspannen können. Wenn jeder Wahrnehmung eine Vorstellung entspricht und wenn man von dieser Vorstellung wiederum eine Empfindung hat, d.h. dass sie einen neuen Reiz darstellt, dann ist es nicht allzu schwierig, diesen Vorgang zu verstehen, nämlich: Wenn ich ein Phänomen wahrnehme, erzeugt das innere Bild, das von eben diesem Phänomen ausgelöst wird und ihm auch entspricht, seinerseits Empfindungen in verschiedenen Teilen meines Körpers oder meines Körperinneren. Ich identifiziere mich, wenn jemand eine Schnittverletzung erleidet, da mit der visuellen Wahrnehmung eines solchen Phänomens das Auslösen eines visuellen Bildes einhergeht und parallel dazu ein Auslösen von zahlreichen synästhetischen und taktilen Bildern, von denen ich wiederum einen Sinneseindruck habe, welcher in mir schließlich die Empfindung der Schnittverletzung des anderen hervorruft. Demnach wird es nicht gut sein, wenn ich die anderen schlecht behandle. Denn von einer solchen Vorgehensweise werde ich auch die entsprechende Empfindung haben.

Wir werden nun fast technisch sprechen. Dazu werden wir ein Kreislaufmodell verwenden, das schrittweise funktioniert – auch wenn wir wissen, dass die Struktur des Bewusstseins als eine Gesamtheit arbeitet. Nun gut, eine Sache ist der erste Kreislauf, der aus der Wahrnehmung, der Vorstellung, der erneuten Vorstellung und der inneren Empfindung besteht. Und eine andere ist der zweite Kreislauf, der mit der Handlung zu tun hat und in etwa folgendes bedeutet: Von jeder Handlung, die ich in Richtung Welt in Gang setze, habe ich ebenfalls eine innere Empfindung. Diese Rückkoppelung erlaubt mir z.B. zu lernen, indem ich handle. Wenn es in mir keine Rückkoppelung der Bewegungen, die ich ausführe, gäbe, könnte ich diese Bewegungen niemals perfektionieren. Ich lerne Schreibmaschinenschreiben durch Wiederholung, d.h., ich präge mir Handlungen durch Erfolg und Irrtum ein; jedoch kann ich mir Handlungen nur dann einprägen, wenn ich sie durchführe. Das heißt, dass die Empfindung durch das Handeln ausgelöst wird. Erlaubt mir einen Exkurs: Es gibt ein großes Vorurteil, das manchmal in den Bereich der Pädagogik eingedrungen ist. Demnach lernt man, indem man denkt anstatt handelt. Gewiß lernt man etwas, weil man die Daten aufnimmt. Diese Daten prägen sich aber nicht bloß ins Gedächtnis ein, sondern sie gehen immer mit Bildern einher, die ihrerseits eine neue Aktivität in Gang setzen: Es wird verglichen, abgelehnt usw., was die ständige Aktivität des Bewusstseins zeigt und nicht eine angebliche Passivität, in der die Daten bloß aufgenommen werden. Gerade diese Rückkoppelung erlaubt uns zu sagen: »Ich habe mich vertippt.« Ich registriere dabei die Empfindung des Erfolgs und des Irrtums, wobei ich die Empfindung des Erfolges perfektioniere, und dabei entsteht die Gewohnheit; und dabei wird die korrekte Handlung des Maschinenschreibens automatisiert. Wir sprechen hier von einem zweiten Kreislauf. Der erste bezog sich auf den Schmerz im anderen, den ich in mir empfinde. Der zweite Kreislauf weist auf die Empfindung hin, welche ich von der Handlung habe, die ich ausführe.

Ihr kennt die Unterschiede, die zwischen den kathartisch genannten Handlungen und den transferentiellen Handlungen bestehen. Die kathartischen Handlungen beziehen sich grundsätzlich auf die Entladung von Spannungen und enden dort. Die Übertragungshandlungen erlauben dagegen, innere Ladungen zu verschieben, Inhalte zu integrieren und die reibungslose Arbeit der Psyche zu erleichtern. Wir wissen, dass es dort, wo es Inseln geistiger Inhalte gibt, Inhalte, die unter sich nicht in Kommunikation stehen, Schwierigkeiten für das Bewusstsein gibt. Wenn man z. B. in eine Richtung denkt, aber in ein eine andere Richtung fühlt und schließlich noch in eine andere Richtung handelt, können wir verstehen, dass dabei etwas nicht stimmt und dass das Empfinden nicht zufriedenstellend ist. Es scheint, dass die Arbeit der Psyche nur dann eins wird, wenn wir zwischen den inneren Inhalten Brücken schlagen. Das erlaubt der Psyche, weitere Schritte vorwärts zu machen. Es gibt sehr nützliche transferentielle Techniken, die bestimmte Bilder, die einem Probleme bereiten, in Bewegung bringen und sie verwandeln können. Ein Beispiel dieser Technik wird in literarischer Form in den »Geleiteten Erfahrungen« vorgestellt. Wir wissen aber auch, dass die Handlung – und nicht nur die Arbeit mit den Bildern – transferentielle Phänomene und autotransferentielle Phänomene bewirken kann. Es wird also nicht dasselbe sein, auf die eine Art zu handeln oder auf die andere. Es wird Handlungen geben, die es erlauben, innere Inhalte zu integrieren, und es wird Handlungen geben, die fürchterlich desintegrierend wirken. Bestimmte Handlungen erzeugen im Menschen eine derartig schwere Last, eine derartige Reue und innere Spaltung, eine derartige tiefgehende Ruhelosigkeit, dass die betreffende Person sie niemals wiederholen möchte. Unglücklicherweise sind aber solche Handlungen stark mit der Vergangenheit verbunden. Auch wenn man derartige Handlungen in der Zukunft nicht wiederholen würde, üben sie doch von der Vergangenheit, vom Gedächtnis her ständig Druck aus, ohne gelöst zu werden, ohne sich zu integrieren und ohne dem Bewusstsein zu erlauben, seine Inhalte zu verlagern, zu verschieben oder zu integrieren. So machen sie es der Person unmöglich, diese Empfindung inneren Wachstums zu haben, von der wir vorher gesprochen haben.

Die Handlung, die in der Welt durchgeführt wird, ist nicht bedeutungslos. Es gibt Handlungen, von denen man eine Empfindung von Einheit hat, und es gibt Handlungen, die eine Empfindung von Widerspruch, von Desintegration hinterlassen. Wenn man diese Tatsache im Lichte dessen, was man bezüglich kathartischer und transferentieller Phänomene weiß, sorgfältig studiert, dann wird diese Angelegenheit der Handlung in der Welt – was die Integration und die Entwicklung der Inhalte betrifft – viel klarer. Aber natürlich ist dieser Vergleich mit den Kreisläufen, um die Bedeutung der gültigen Handlung zu verstehen, ein kompliziertes Thema. Währenddessen fragt sich unser Freund immer noch: »Und was soll ich tun?« Wir empfinden es als einheitlich und wertvoll, diesem Herrn, der – ohne inneren Bezug in seinem Leben – auf dem Gehsteig sitzt, wenigstens diese Sachen, die wir wissen, mit einfachen Worten und Tatsachen zu vermitteln. Wenn niemand das für ihn tut, dann werden wir es tun – ebenso wie vieles andere, das ermöglichen wird, den Schmerz und das Leiden zu überwinden. Indem wir so vorgehen, werden wir auch für uns selbst arbeiten.

Las Palmas de Gran Canaria. 29/09/78.
Überarbeitet vom Author am 10/10/96.


Bibliographie:
Das Buch "Silo spricht" - "Die gültige Handlung"

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