Der Grundsatz des Genießens


"Wenn du dem Vergnügen nachjagst, fesselst du dich ans Leiden. Solange du jedoch deiner Gesundheit nicht schadest, genieße unbefangen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet."

Dieser Grundsatz kann auf den ersten Blick erschreckend sein, denn man könnte denken es wird gesagt: “Genieße, auch wenn du anderen dadurch schadest, denn das einzige was dich aufhalten sollte ist deine eigene Gesundheit.” Aber das wird nicht gesagt. Vielmehr wird erklärt wie unvernünftig es ist, die Gesundheit durch übertriebenes und schädliches Vergnügen zu zerstören. Es wird aber auch gesagt aufgrund von Vorurteilen nicht zu genießen, führt zu Leiden. Auch ein Genießen mit Gewissenskonflikten ist schädlich. Die grundlegende Idee ist letztendlich die, dem Genuss nicht nachzujagen, sondern ihn einfach anzunehmen, wenn er sich bietet. Das Genussobjekt zu suchen, wenn es nicht da ist, oder es abzulehnen, wenn es auftaucht, führt beides zu Leiden.

Diesen Grundsatz (wie die anderen auch) muss man in Zusammenhang mit den anderen Grundsätzen verstehen und ihn nicht so auslegen, dass er den anderen widerspricht. Es gibt noch einen anderen Grundsatz der besagt: “Wenn du andere so behandelst, wie du selbst behandelt werden möchtest, befreist du dich.”

Im folgenden Märchen werden falsche und rechte Haltungen gegenüber dem Genussgegenstand dargestellt:

Der Meister schenkte der Versammlung seiner Schüler einen Zauber-Kuchen, von dem man so viel essen konnte, wie man wollte, ohne dass seine Ausmaße vermindert wurden. Der Kuchen blieb dort unter der Bedingung, dass man ihn nur ein Mal am Tag kosten durfte.

Dieses Geschenk gab ihnen der Meister, bevor er sich auf eine lange Reise begab, weil er der Gemeinschaft der Mönche auch die geringste Schwierigkeit abnehmen wollte.

Ein erster Schüler staunte, nachdem er den Kuchen gekostet hatte, über den hochfeinen Geschmack. Aber bald nachdem er satt war, dachte er bereits wieder an das Stück des folgenden Tages. Von Tag zu Tag wuchs seine Besessenheit, und als ihm dieser Zustand unerträglich wurde, beschloss er, ein so großes Stück zu essen, so groß, dass es sein Verlangen bis zur nächsten Ration befriedigen könnte. Allerdings endete dies in grauenvollem Magengrimmen, das ihm fast den Tod brachte.

Als Erinnerung wurde an die Vorderseite des Klosters ein Schild mit folgender Inschrift gehängt: „Wer den Genuss sucht und ihn behalten will, der leidet.“

Ein zweiter Schüler, der über das, was geschehen war, nachdachte, wollte am Anfang den Kuchen nicht kosten, obwohl sein Wunsch groß war. Man hatte ihm gesagt, dass das Vergnügen nur Leiden brachte. Deshalb dürfte man auch nicht genießen, wenn man nicht leiden wolle. Eine Sache bringt eine andere, wie die Erfahrung beweist.

Aber es geschah, dass sich der Asket täglich Berge von Kuchen vorstellte, ohne dass er sich erlaubte, ein einziges Stück zu essen. Manchmal träumte er von riesigen Kuchenbergen und er wachte so aufgeregt auf, wie jemand, der von einer sehr großen einsamen Ameise gebissen wurde. Endlich, um sich noch größere Leiden zu ersparen, aß er eines Tages ein Stück des wundervollen Kuchens, und so verriet er seine Überzeugung, und seine Besessenheit vergrößerte sich noch.

Man hängte nun an die Vorderseite des Klosters ein zweites Schild, auf dem zu lesen stand: „Sünde ist weder im Kuchen noch im Bauch, sondern sie ist das, was man darüber träumt und denkt.“

Schließlich überdachte ein dritter Schüler die Aufgabe, die der Meister ihnen vor seiner Reise stellte. Er sah dann, dass das Kloster, der Gutshof und die Tiere unversorgt geblieben waren, da die verschiedenen Meinungen um die Geschichte des Kuchens die Gemeinschaft geteilt und durcheinander gebracht hatten. Er nahm es auf sich, alles wieder in Ordnung zu bringen, denn die Rückkehr des Meisters stand bevor.

Als er in einem der Räume sauber machte, fand er den Grund des ganzen Ärgers. Er stand einen Augenblick da, schnitt dann ein großes Stück ab und kostete den Kuchen ganz langsam. Da er jedoch mit der Arbeit im Kloster so beschäftigt war, dachte er nie mehr daran.

Als der Meister zurückkam, fand er am Eingang des Hauses die zwei Schilder und er bat um eine Erklärung dafür. Als er ihre Gründe vernommen hatte, beschloss er, den Kuchen wegzuwerfen.

Dann sagte er: „Man hat hier eine große Ungerechtigkeit begangen.“

Er hängt ein drittes Schild auf und schreibt darauf:  „Die Habsucht des einen aber auch die übertriebene Askese des anderen brachte beiden das gleiche Resultat. Was dem Heiligen nur ein Stück Kuchen ist, bringt dem Gierigen große Schwierigkeiten.“


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